Tradition – Gefällt mir!

Menschengruppe in Tracht

Je stärker Digitalisierung und Globalisierung voranschreiten, desto bedeutsamer werden lieb gewonnene Bräuche, Sitten und Dialekte.

Der Internetkonzern Google ist der Inbegriff von Digitalisierung, Moderne und globaler Vernetzung. Und doch setzt das US-Technologieunternehmen in seinem neuen Münchner Entwicklungszentrum auf Althergebrachtes: Hirschgeweih-Kronleuchter an der Decke vermischen sich mit Flachbildschirmen an den Wänden zu einer gelungenen Kombi aus bayerischer Tradition und kalifornischer Moderne. Die Mitarbeiter kommen außerdem in den Genuss von „gBräu“ – ein eigens für den Konzern in einer Münchner Brauerei produziertes „Google-Bier“, das es nur im Entwicklungszentrum an der Hackerbrücke gibt. Nicht nur Google hält Tradition hoch.

Back to the roots

Soziologen und Trendforscher beobachten eine regelrechte Wiedergeburt des Traditionsbewusstseins in Deutschland. „Es ist so etwas wie ein Geländer der Orientierung, an dem entlang für viele Menschen Vertrautheit, Identität und Heimatbindung heranwachsen“, sagt Eugen Buß, Professor für Soziologie an der Universität Hohenheim. „Je stärker der internationale Lebensstil mit den überall gleichen Kleidungs- und Lebensmittelangeboten als standardisiert erlebt wird, desto stärker wird Halt in heimischen Identitätsbildern gesucht, die nicht austauschbar sind – etwa Dialekte, Bräuche, regionale Küche oder lokale Trachten.“

Rund zwei Millionen Mitglieder verzeichnet der Deutsche Trachtenverband. Immerhin mehr als 100.000 davon sind Jugendliche. Quelle: Deutscher Trachtenverband

Das Comeback der Traditionen hat viele Gesichter: Es spiegelt sich im Vereins- und Privatleben wider oder der Art zu wohnen. Traditionelle Werte wie Familie, Kinder, Zuverlässigkeit oder Eigenheim stehen verschiedenen Studien zufolge wieder sehr hoch im Kurs. Eine lange Tradition spielt aber auch bei Unternehmen und Banken eine wichtige Rolle. Nicht nur die Kunden und Verbraucher schöpfen daraus ein gewisses Grundvertrauen zu den angebotenen Dienstleistungen und Produkten. Auch bei Studenten und Absolventen sind große Traditionsunternehmen als künftige Arbeitgeber sehr beliebt. Konzerne wie BMW, Audi, Siemens, Bayer oder BASF führen seit Jahren Arbeitgeber-Rankings wie das der „Wirtschaftswoche“ und des Beratungsunternehmens Universum an.

Bräuche und Traditionen werden wieder groß geschrieben

In der Freizeit zeigt sich der Trend zur Tradition in der Wiederbelebung regionaler Bräuche. Einen Maibaum aufzustellen, gehört vielerorts genauso selbstverständlich dazu wie Osterfeuer, Pfingstmärkte, Fastnachtsumzüge oder Volksfeste. Und nicht nur in Bayern, sondern auch in anderen Bundesländern können sich Trachtenvereine derzeit nicht über Nachwuchsmangel beklagen: Rund zwei Millionen Mitglieder verzeichnet der Deutsche Trachtenverband derzeit, die sich regelmäßig bei Umzügen und Festen engagieren, traditionelle Trachten und Tänze pflegen. Immerhin 100.000 davon sind Jugendliche.

Tradition und Moderne kein Widerspruch

In der einen Hand das Smartphone, in der anderen den Trachtenhut – gerade für junge Leute sind Tradition und Moderne kein Widerspruch. „Die junge Generation gräbt wie fleißige Archäologen alte Riten und Gebräuche aus der Heimatregion aus und erweckt sie zu neuem Leben. Dabei spielt häufig auch der Event-Charakter eine große Rolle“, beobachtet Soziologe Buß. Frei nach dem Motto: Gemeinsam beim Volkstanz, Schützenfest oder im kölschen Karneval Tradition erleben und später via Facebook, Instagram und Co die Erlebnisse mit der weltweiten Netz-Community teilen. Zugleich sind viele Unter-30-Jährige auch erstaunlich konservativ in ihren Wertvorstellungen. Eine Entwicklung, auf die der Kölner Trendforscher Stephan Grünewald vom Rheingold Institut aufmerksam gemacht hat.

Jugendstudie

Seine Jugendstudie trägt den bezeichnenden Namen: „Generation Biedermeier“. „Wir erleben heute die Renaissance der Schrankwand“, bringt Grünewald die Kernaussage auf den Punkt. Der Zerfall von Familienstrukturen und Umwälzungen am Arbeitsplatz ziehen einen allgemeinen Wertewandel nach sich. „Die wachsenden Unsicherheiten im Alltag der jungen Generation haben eine schleichende Kulturrevolution angezettelt, die sich in einem neuen Wertekonservatismus äußert“, erläutert der Trendforscher. Stricken, Einwecken, Hobbykeller oder Schrebergarten kämen wieder in Mode. Da wundert es nicht, dass viele angesagte Studentenkneipen und Bars in großen Uni-Städten wie Berlin, Hamburg, Köln, München oder Stuttgart anmuten, als hätten die Inhaber Großmutters Wohnzimmer geplündert. In einem urtümlichen Ambiente aus Kronleuchter, Ohrensessel und goldgerahmter Jagdszene an der Wand lässt man sich Cocktails, hippe Brausen oder veganes Fingerfood munden.

Der Dialekt ist aus der Schmuddelecke raus

Selbst der gute alte Dialekt wird wieder salonfähig. Sei es Bayerisch, Schwäbisch, Kölsch oder Ostfriesisch – vielerorts ist regionaler „Slang“ sogar Teil der neuen Jugend- und Popkultur geworden. Lokale Künstler, die in Mundart sprechen oder singen, erlangen Kultstatus. „Der Dialekt ist aus der Schmuddelecke raus – und vor allem bei jüngeren Menschen wieder hip“, sagt Klaus Wenzel, Ehrenpräsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes im Interview. Der Pädagoge setzt sich seit vielen Jahren dafür ein, dass die heimische Mundart als Teil der deutschen Sprache wieder vermehrt Einzug in die deutschen Klassenzimmer hält.

Auch klassische Namen kommen wieder

In vielen Schulen oder auf Spielplätzen lässt sich das Comeback des Traditionellen noch in anderer Hinsicht beobachten. Während dort noch vor wenigen Jahren Michelle, Jaqueline und Zoe einträchtig mit Tim, Kevin und Yves lernten und bastelten, toben heute immer häufiger Clara, Greta und Frida mit Leopold, Franz und Karl über das Klettergerüst.

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